Manchmal sind Zufälle Zeichen, die man als solche erkennen und deshalb handeln muss. Als ich am Freitag nachschaue, wie lange eigentlich in der Schöllenenschlucht noch gebaut wird, sehe ich: Tags zuvor wurde der neue Veloweg eröffnet. Damit steht mein Ausflug für den Samstag fest. Er führt ins Gotthardmassiv.
Ich rechne mit Heerscharen von aufgestellten Rentnerinnen, die mich auf dem Rennvelo mit ihren E-Bikes überholen. Doch offenbar hat die Nachricht von der Eröffnung noch nicht die Runde gemacht. Mir gehört der Weg ganz allein. Bloss eine dreiköpfige Wandergruppe begegnet mir auf ihrem Weg von Andermatt hinunter nach Göschenen.
Dort starten wir beim Bahnhof. Nachdem es die ersten zwei Kehren noch auf einem breiten Velostreifen auf der sanierten Strasse hinaufgeht, folgt eine erste Galerie. Wir können getrennt von Autos und Töffs rechts an ihr vorbeifahren. Und bevor der motorisierte Verkehr in die Tanzbeingalerie eintaucht, zweigen wir Velofahrer rechts ab. Hier beginnt nun der Weg, an dem seit 2014 gebaut wurde.
Der Asphaltbelag ist, so frisch verlegt, von feinster Qualität. Neben ihm wurde ein Kiesweg angelegt, denn die Passage dient nicht nur Velofahrern, sondern auch Wanderern. Schade, ist der Untergrund etwas weiter oben dann nicht mehr tadellos. Aber auch mit dünnen Pneus ist er problemlos befahrbar.
Dafür, dass der Weg stets nahe der Strasse verläuft, ist es erstaunlich ruhig. Zu ausgiebig sollte man diese Stille aber nicht geniessen, mehrmals wird vor Steinschlag gewarnt.
Eine Spazierfahrt ist die Fahrt hinauf nach Andermatt nicht. Die Schöllenenschlucht ist und bleibt ein unbequemes Hindernis auf dem Weg dorthin. Flach ist es in Holland, aber sicher nicht hier.
Gut, dass die Bauherrschaft an all jene gedacht hat, denen der Schnauf auszugehen droht. Bei der «Bäzkehre» wurde ein schöner Rastplatz eingerichtet, mitsamt Grill und Feuerholz.
Danach ist der Weg nach oben nicht mehr allzu weit. Und nun richtig spektakulär: Rechts «klebt» man an einer Felswand, links zischt und tost es. Und direkt vor einem türmt sich wuchtig das Suworow-Denkmal auf.
Das Denkmal für gefallene russische Soldaten steht auf Boden, der zwar dem russischen Staat gehört, aber Schweizer Territorium ist. Die ID können wir also stecken lassen.
Schon ein paar Meter vorher haben wir nach einer Rechtskurve ein anderes Highlight der Route passiert: die Teufelsbrücke. Wohl jeder Schweizer kennt die Sage, wonach der Teufel den Urnern anbot, ihnen beim Bau zu helfen, sofern er als Gegenleistung die Seele des Ersten erhielte, der die fertige Brücke überschritt. Die schlauen Urner schickten eine Ziege hinüber, was den Teufel so fuchsteufelswild machte, dass er sein Werk umgehend zerstören wollte. Doch eine fromme Frau ritzte ein Kreuz auf den grossen Stein, den der Teufel werfen wollte. Der Brocken verfehlte die Brücke und fiel die gesamte Schöllenenschlucht hinunter.
Mit dem Velo überqueren wir die untere Teufelsbrücke aus dem Jahr 1830. Direkt über uns donnern die Autos über die jüngste Teufelsbrücke. Aber wir hören sie nicht, denn die Reuss kracht laut in die Tiefe. Weil ein zügiger Wind weht, kühlt die Gischt ab – sehr willkommen an diesem heissen Tag.
Nun sind es nur noch wenige hundert Meter, dann ist Andermatt erreicht, nach rund vier Kilometern und etwa 300 Höhenmetern.
Auf dem Weg nach Andermatt war die Strasse früher ein Nadelöhr. Auto-, Töff- und Lastwagenfahrer regten sich über Velofahrer auf. Und diese wiederum hatten nicht nur die Steigung als Widersacher, sondern auch mit dreckigen Abgasen in den Galerien zu kämpfen und mit quengelnden Mitbenutzern der Strasse.
Den Langsamverkehr vom schnelleren zu trennen, war das Hauptziel der Behörden und diese Entflechtung ist hervorragend gelungen. Der neue Veloweg durch die Schöllenenschlucht ist damit ein wunderbares Beispiel dafür, was mit politischem Willen möglich ist: ein Nebeneinander, das alle Beteiligten nicht nur glücklicher, sondern vor allem auch sicherer macht. Von den rund 105 Millionen Franken für die gesamte Sanierung ging etwa ein Viertel des Geldes in den Velo- und Wanderweg.
Die Schöllenenschlucht an sich ist kein Ausflugsziel für einen Velofahrer, so aussergewöhnlich schön ist der Weg nicht. Das Adjektiv «spektakulär» trifft besser zu. Der Weg ist das Ziel. Die Schlucht ist das Eingangstor hinein in eine grandiose Pässewelt, die sich in Andermatt auftut, mit Gotthard-, Oberalp- und Furkapass.
So führt auch mein Ausflug nicht direkt zurück nach Göschenen, sondern hinauf auf den Gotthardpass. Wenn schon auf einem historischen Pfad Richtung Süden, dann richtig.
Zurück vom Jahrmarkt-Rummel auf der Passhöhe «entdecke» ich in Göschenen noch eine Trouvaille: die landschaftlich wunderschöne Fahrt hinauf zum Göscheneralpsee am Fuss des Dammagletschers. Diese Sackgasse toppt die Schöllenenschlucht in der Schönheits-Wertung um Längen, neuer Veloweg hin oder her.